Zur Situation der Gegenwartskunst - Subjektive Bestandsaufnahme…
1. Es herrscht Krieg.

Inken Reinert, o. T.
Tuschzeichnung auf Papier, 2023
29,7 x 21 cm

Die Kunst wird zerrieben im Dualismus. In öffentlichen (und privaten) Debatten scheint es nur noch Freund oder Feind zu geben. Kunst wird aufgeteilt in Agitprop oder l’art pour l’art, Diskurs oder Deko, partizipatorisches Mitmachspektakel oder Flachware an der Wand, gerne alles im Rahmen und passend zum Sofa oder wie just einer Geisterbahn für das Bildungsbürgertum entsprungen - Hauptsache, die Kunst tut nicht allzu weh, sonst findet sie nämlich keine zweckgebundene Zielgruppe, weder in den Institutionen, noch unter Sammlern.

2017 schreibt Wolfgang Ullrich in einem Essay über die Entwicklung der Gegenwartskunst an künstlerischen Hochschulen: „Ein Schisma vollzieht sich in der Kunst: Werke für Kuratoren, die das Distinktionsbedürfnis der Diskurseliten, und Werke für den Markt, die das der Oligarchen befriedigen, spalten sich soweit ab, dass der gemeinsame Begriff Kunst nicht mehr zutrifft. Sicher wird das Schisma nicht so ablaufen, dass aus dem kalten Krieg ein heißer Krieg wird. Im Gegenteil hat man sich, je weiter man auseinander driftet, umso weniger zu sagen. Schließlich nimmt man sich gegenseitig kaum noch wahr.“ [1]

Heute, Jahre später, befinden wie uns im heißen Krieg. Die Akteure der Kunst haben sich in Stellung gebracht - entweder mit oder ohne *, für Elitenförderung oder für Sozialquote, alte weiße Männer oder globale Nomaden, vorzugsweise aus Industrieländern und/oder aus privilegierten Familien, natürlich auch im Namen der Kunst: Kriegstreiber oder Propagandagläubige, Antisemiten oder Imperialisten, Künstlergenie oder Influencer, politische Staatskunst oder kommerzielle Ware, Prostitution für Oligarchen oder Dienstleistung für evaluierte Zielgruppen in Institutionen, Hochschulbeamte oder keine Rente, amazing oder boring, umsatzsteuerpflichtig oder Kleinunternehmer, Hunger- oder Auftragskünstler und bei Förderanträgen bitte freiwillig ankreuzen m/w/divers (wegen der Statistik, muss ja alles korrekt zugehen bei der Verteilung öffentlicher Gelder…).

Man kann natürlich auch versuchen, sich zu enthalten und sich nicht eindeutig zu positionieren. Dann läuft man aber Gefahr, in Bedeutungslosigkeit unterzugehen oder (noch schlimmer) mit seinem Schweigen den pöbelnden Mob zu unterstützen. Im Zweifelsfall schlägt man sich auf die vermeintlich erfolgreichere Seite, um nicht selbst mit den Schwächeren unterzugehen. Diskutieren ist zu kompliziert, frustrierend, aussichtslos und zu anstrengend geworden. Vor allem dauert es auch viel zu lange, passt ja nicht in einen Tweet. Zuhören geht nicht mehr - schon allein wegen der geringen Aufnahmespanne, ADHS-Diagnosen am laufenden Band.

So lange man unterlegen ist und Verbündete um sich scharren möchte, heuchelt man Annäherung oder Zustimmung. Wittert man den Sieg, tritt man kräftig zu. Safe Spaces gibt es nur für die eigene Befindlichkeit. Einen Kompromiss zu finden ist nicht das erklärte Ziel, sondern wird als Niederlage verbucht. Entweder kapituliert der Gegner freiwillig oder wird mundtot gemacht. Und ganz wichtig: Endlich heiligt der Zweck wieder die Mittel - und zwar bis zum bitteren Ende. Erst, wenn der Gegner vollständig vernichtet ist, verlässt man befriedigt das Schlachtfeld und zieht von dannen. Auf in den nächsten Kampf! Denn der Siegestaumel verfliegt schnell. Erniedrigung macht süchtig - und mächtig. Die nächste Eroberung muss her, koste es, was es wolle. Schließlich herrscht Krieg…

Schwarze Tuschelinien auf weißem Papier - dazwischen unendlich viele Nuancen von Grau.

[1] Wolfgang Ullrich (2017). Zwischen Deko und Diskurs. Zur näheren Zukunft der Kunstakademien, in: Deutschlandfunk, 03.10.2017.
https://www.deutschlandfunk.de/zwischen-deko-und-diskurs-zur-naeheren-zukunft-der-100.html